Warum Rituale schwere Zeiten erleichtern können
Brauchen wir Rituale? Ist es nicht besser, wenn wir uns frei und ungezwungen entscheiden, was wir machen oder nicht machen? Ritualforscher sehen das anders: Die Freiheit der Rituallosigkeit überfordert viele Menschen. Vor allem in Übergangs- und Krisenzeiten. Wie können uns Rituale in Zeiten des Umbruchs helfen? Und wie wirken sie?
Rituale geben Halt und schaffen Gemeinschaft
Rituale sind der Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhält. Es sind Rituale, die eine gemeinschaftliche Identität stiften und andere, die nicht an ihnen teilnehmen, ausschließen. Auch wenn Letzteres für uns erst einmal negativ klingt, so heißt es doch im Umkehrschluss: Wer an unseren Ritualen teilnimmt, wird Teil unserer Gemeinschaft.
Rituale schaffen jedoch nicht nur Gemeinschaft, sie haben noch weitere Funktionen: Sie verleihen dem Leben eine Struktur, indem sie die Ordnung des Raumes, der Zeit, der Welt abbilden und sichtbar machen. Im Zyklus des Jahres gibt es wiederkehrende Rituale wie Ostern, Weihnachten, Erntedank, an denen wir uns orientieren können.
Sie bieten Orientierung im Fluss des Lebens. Bei der Geburt, beim Erwachsenwerden, beim Sterben – in fast allen Kulturen existieren Rituale, die die Menschen in Krisen- und Übergangszeiten begleiten und in diesen Situationen des Wandels und der Veränderung Kraft und Sicherheit spenden. Zudem helfen uns Rituale, unsere Emotionen in akzeptable Bahnen zu kanalisieren, leiten unsere Handlungen und vermitteln erschütterten Individuen und Gemeinschaften Zuversicht und Halt.
Nur Routine oder doch ein Ritual?
Aber was ist ein Ritual eigentlich? Von außen betrachtet besteht ein Ritual aus einer Kette immer gleicher Handlungen, deren Ablauf jedem Beteiligten bekannt ist. Diese rein äußere Beschreibung genügt jedoch nicht, um ein Ritual zu definieren und von anderen vertrauten Handlungsabläufen abzugrenzen. Denn im Gegensatz zu Kaffeekochen, das ebenfalls immer gleich abläuft und jedem vertraut ist, transportiert ein Ritual mehr.
Anders als bei einer Routine oder einer Tradition reicht die Bedeutung eines Rituals weit über die eigentliche Handlung hinaus. Ein Beispiel: Der Priester, der einen Becher Wein in die Höhe hebt und die Wandlungsformel spricht, hält eben nicht lediglich Wein in seinen Händen, sondern für die Gläubigen das Blut Christi. Die symbolische Ebene finden wir sogar schon in den kleinen Ritualen, die sich innerhalb von Familien entwickeln. Für das Kind, das seine Eltern das Buch mit Gute-Nacht-Geschichten hervorholen sieht, heißt es nicht nur, dass nun vorgelesen wird; gleichzeitig symbolisiert das Buch das Ende des Tages.
Daneben verfügt ein Ritual über eine weitere Ebene, die es von unseren Alltagsroutinen unterscheidet: die performative. Im Unterschied zu einer Alltagsroutine wird ein Ritual zelebriert und aufgeführt. Man vollzieht es nicht für sich allein, sondern für mindestens einen weiteren Beteiligten. Dabei ist es irrelevant, ob dieser weitere Beteiligte anwesend ist oder nicht, ob es sich um einen lebenden oder verstorbenen Menschen handelt, ob es für ein Tier, einen Geist oder für einen Gott durchgeführt wird.
Obwohl ein wesentliches Charakteristikum von Ritualen im immer gleichen Ablauf liegt, sind Rituale kein starres Korsett, in dem die Menschen gefangen sind. Im Gegenteil: Viele Rituale passen sich im Wandel der Zeit an, verändern sich und werden in ihrer veränderten Version abermals zu einem Ritual.
Rituale in der Krise
Der Ethnologe Arnold van Gennep forschte Anfang des 20. Jahrhunderts zum Thema Rituale. Bis heute bilden seine Forschungen die Grundlage unseres Wissens über die Kraft und die Funktion von Ritualen.
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In einer vergleichenden Analyse unterschiedlicher Kulturen stellte van Gennep fest, dass fast überall räumliche wie zeitliche Zustands-, Positions-, Status- und Altersgruppenwechsel von Riten begleitet wurden, die deren Ablauf strukturierten. Diese Übergangsriten unterteilte van Gennep in drei Phasen: die Riten der Trennung, der Umwandlung und der Wiederangliederung.
Die Trennungsriten symbolisieren das Sterben des bisherigen Menschen, das Ende des vertrauten Lebens. Die Umwandungsriten begleiten den Menschen während des „Totseins“, der Transformation in etwas Neues. Die Riten der Wiederangliederung versinnbildlichen die Wiedergeburt: Man kehrt als neuer Mensch in die Gemeinschaft zurück.
Ein Beispiel sind Initiationsriten beim Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden: Häufig wird das (männliche) Kind zu Beginn des Wandels aus der Gemeinschaft geführt und „stirbt“ damit symbolisch. Anschließend muss es durch eine Phase der Prüfung hindurch, bevor der Junge als Mann wiedergeboren und erneut in die Gemeinschaft aufgenommen wird.
Auch bei Trauernden sind diese Phasen zu beobachten: Das alte Leben stirbt mit dem Tod des geliebten Menschen, und man muss durch eine Phase des Schmerzes und der Umwandlung gehen, bevor man als neuer, veränderter Mensch aus der Trauerphase ins Leben zurückkehrt.
Fehlendes Wissen über Rituale erschwert das Überstehen von Krisenzeiten
Wir wissen heute immer weniger über die Rituale, die einst die Übergänge in unserem Leben begleiteten. Die Studentenbewegung der 1960er Jahre befreite die Menschen von gesellschaftlichen Vorgaben, eröffnete den Weg für individualisierte Lebensentwürfe und Handlungen. Jeder sollte frei und selbstbestimmt entscheiden, wie, wann, wo er oder sie etwas tun oder lassen wollte. Damit wurden auch Rituale, die früher selbstverständlich waren, nicht mehr weitergegeben.
Zwar ist die Freiheit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten, prinzipiell gut. Doch mit dem schwindenden Einfluss von Ritualen auf unser Leben geht zugleich die Sicherheit verloren, die sie uns spenden. Viele Menschen stehen daher hilflos vor Umbrüchen und Übergängen in ihrem Leben und wissen nicht, was sie genau tun sollen. Die traditionellen Rituale, die die Menschen in der Vergangenheit kannten und in deren Ablauf sie sich ohne nachzudenken begeben konnten, sind ihnen nicht länger vertraut. Sie können nicht auf sie zurückgreifen, sich nicht ins Ritual fallen lassen und sich einfach treiben lassen. Im Gegenteil: Sie müssen in Zeiten, in denen sie unsicher und schwach sind, selbst nachdenken und Entscheidungen treffen. Das überfordert viele und erschwert ihnen den Übergang.
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